11/20/2020 10:50
Nikola Dimitrov kritisiert das bulgarische Veto gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen und will über Geschichtsfragen nicht verhandeln
Die bulgarische Regierung blockiert den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen für das Nachbarland Nordmazedonien, obwohl dessen Regierung als herausragende Reformkraft auf dem Balkan gilt. Sofia will Skopje dazu zwingen, das Adjektiv "mazedonisch" für die eigene Sprache nicht mehr zu verwenden, was Nordmazedonien ablehnt. Falls Bulgarien nicht nachgebe, werde man sich ohne EU-Erweiterungsprozess europäisieren, kündigt Nordmazedoniens Vizepremier Nikola Dimitrov im STANDARD-Interview an.
STANDARD: Was sagen Sie zum bulgarischen Veto am Dienstag gegen den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien?
Dimitrov: Das war kein guter Tag für Europa, kein guter Tag für die europäische Perspektive unserer Region und definitiv auch kein guter Tag für uns. Wir wollen aber nun Verzweiflung und Nationalismus verhindern und wenden uns deshalb an befreundete EU-Staaten, damit wir die EU-Standards auch ohne EU-Beitrittsprozess erreichen, falls Bulgarien das Veto nicht zurückzieht. Denn wenn unser Beitrittsprozess so stark auf ein bilaterales Problem reduziert wird, dass Diskussionen über die Geschichte wichtiger sind als jene über den Kampf gegen Korruption, Unabhängigkeit der Justiz, das Funktionieren der demokratischen Institutionen, Medienfreiheit, Umwelt und Energie, dann ist das kein Prozess, der europäisiert, sondern einer, der balkanisiert. Wir brauchen deshalb eine Reformagenda mit einem Netzwerk von Freunden, die bereits sind, uns zu helfen, und wir müssen uns klare Ziele setzen und daran arbeiten – denn wir sollten keine Zeit verschwenden.
STANDARD: Heißt das, dass Sie keine Gespräche mit der bulgarischen Regierung über diese Geschichtsfragen führen werden und einfach abwarten, bis die Regierung in Sofia wechselt?
Dimitrov: Wir werden weiterhin mit Sofia reden, aber wir werden nicht darüber verhandeln, wer wir sind und welche Sprache wir sprechen. Das ist nämlich Teil eines historischen Prozesses und keine politische Entscheidung. Wir schulden unseren Leuten, dass wir ihre Würde und Identität schützen. Und wenn sich Sofia nicht bewegt, dann müssen wir andere Wege finden, wie wir unser Land europäisieren.
STANDARD: Denken Sie, dass Bulgarien hart bleiben wird?
Dimitrov: Das ist schwierig zu sagen. Es bleiben uns noch ein paar Tage. Aber für unsere Region bedeutet das ein sehr schlechtes Signal, denn wir waren der erste Staat hier, der ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen hat. Wir hatten 15 Jahre lang den Kandidatenstatus. Zuerst wurden wir von Griechenland blockiert, dann haben wir dieses Problem gelöst. Dann hat Frankreich eine neue Erweiterungsmethodologie initiiert, und jetzt gibt es dieses neue Problem mit Bulgarien. Es ist für uns sehr schwierig zu erkennen, ob die EU es ernst mit uns meint. Im März dieses Jahres gab es noch grünes Licht vom EU-Rat – Bulgarien war Teil dieses Konsenses. Dann haben wir einen sehr positiven Bericht der EU-Kommission im Oktober erhalten. Und was die politischen Kriterien betrifft, so sind wir ziemlich weit fortgeschritten, vergleichbar sogar mit jenen Staaten, die bereits seit ein paar Jahren verhandeln. Wir haben in den letzten dreieinhalb Jahren Probleme mit Nachbarn gelöst, große Schritte in Richtung einer offenen, demokratischen, multiethnischen Gesellschaft und Rechtsstaatsreformen gemacht. Was ist das also für eine Botschaft an die Region, wenn das nicht von der EU anerkannt wird?
STANDARD: Wie entstand eigentlich das Veto Bulgariens? 2017 haben Sofia und Skopje ja noch einen Freundschaftsvertrag unterzeichnet.
Dimitrov: Im Oktober des vergangenen Jahres rund um die Lokalwahlen hat das bulgarische Parlament eine politische Deklaration beschlossen, bei der es um Geschichtsauffassungen ging. Es war nicht wirklich eine Überraschung, aber eine sehr bedauerliche Entwicklung. Wer wir sind, nämlich Mazedonier, und welche Sprache wir sprechen, nämlich Mazedonisch, ist jedoch eine innere Angelegenheit. Das ist eine Frage der Selbstbestimmung. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die EU im Artikel 3 des Lissabonner Vertrags zum Respekt für kulturelle und sprachliche Vielfalt bekennt und gleichzeitig die mazedonische Sprache ein Hindernis für den Beginn von Beitrittsverhandlungen sein soll. Das ist nicht nur eine Herausforderung für uns, sondern auch für die Europäische Union als Wertegemeinschaft. Hier in der Region haben wir eine reichhaltige Vergangenheit, aber wir scheitern offenbar daran, ausreichend Zukunft zu schaffen.
STANDARD: Im Rahmen des Freundschaftsvertrags wurde eine Historikerkommission zwischen Bulgarien und Nordmazedonien geschaffen. Wäre es möglich, dass all diese Fragen wieder dort debattiert werden und nicht in der Politik?
Dimitrov: Ja, die Kommission wurde für historische Fragen geschaffen, und die politischen Fragen sollten von Politikern und Regierungen diskutiert werden. Doch in den letzten Wochen und Monaten wurde die Geschichtsdiskussion vorherrschend, und nun unterminiert sie den politischen Prozess und die wechselseitigen Beziehungen. Die Historikerkommission wird sich wieder im Dezember treffen – nächstes Jahr dann fünfmal. Es gibt aber verschiedene Auffassungen. Vor den vorgezogenen Neuwahlen bei uns haben wir vorgeschlagen, dass die Kommission trotzdem online weiterarbeitet. Aber in Sofia hat man das nicht so geschätzt. Die politische Deklaration im bulgarischen Parlament hat teilweise auch die Arbeit der Kommission behindert – weil die bulgarischen Historiker jene Berichte zurückwiesen, in denen das Adjektiv "mazedonisch" vorkommt. Aber ehrlich: Wenn die vollkommene Übereinstimmung aller Seiten über historische Fragen eine Vorbedingung gewesen wäre, dann hätte die Europäische Union niemals geschaffen werden können. In der modernen Wissenschaft ist deshalb das Konzept einer "historischen Wahrheit" überholt. Man redet nun von Multiperspektivität.
STANDARD: Was für ein Adjektiv soll eigentlich statt "mazedonisch" verwendet werden, wenn es nach den Vorstellungen von Bulgarien geht?
Dimitrov: In einigen bulgarischen Dokumenten gibt es Forderungen, die, offen gesagt, beleidigend sind. Da ist von der "sogenannten mazedonischen Nation" die Rede, und dort heißt es, unsere Sprache sei ein westbulgarischer Dialekt. So eine Debatte soll keinen Platz haben im Europa des 21. Jahrhunderts! Kein anderes Land hat eine rechtliche Grundlage, Themenfelder aufzumachen, die im Zentrum unserer Souveränität liegen. Unsere Sprache ist unsere Angelegenheit. Und die Sprache und die Identität des Nachbarn zu hinterfragen ist nicht gutnachbarlich und, offen gesagt, im Jahr 2020 auch nicht anständig.
STANDARD: Haben Sie Unterstützung von anderen EU-Staaten?
Dimitrov: Es gibt eine überwältigende Unterstützung, dass die Beitrittsgespräche beginnen können. Die deutsche Ratspräsidenschaft wird weiterhin daran arbeiten, dass doch noch eine erste Regierungskonferenz zwischen der EU und Nordmazedonien im Dezember stattfinden kann. Wir werden weiter darauf achten, dass wir niemandem einen Grund geben, uns zu blockieren. Aber das heißt nicht, dass über etwas verhandelt werden wird, was nicht verhandelbar ist. Wir werden Nordmazedonien so oder so europäisch machen. Wenn es eine würdevolle Lösung für diese Herausforderung gibt, dann werden wir den Beitrittsprozess zur Gänze nützen, wenn das nicht möglich ist, dann werden wir die Netzwerke unserer Freunde nutzen und daran arbeiten, dass das Land in einem guten Zustand ist, wenn sich die Situation dann geändert hat.
STANDARD: Zu einer ganz anderen Frage: Der Terrorist in Wien hatte auch eine mazedonische Staatsbürgerschaft. Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit der österreichischen und mazedonischen Behörden in dem Fall?
Dimitrov: Egal ob wir Teil der EU sind oder nicht, wir europäischen Staaten sollten die Zusammenarbeit der Geheimdienste, Sicherheitskräfte und Strafverfolgungsbehörden so umfassend wie möglich ausweiten, um den Terrorismus zu bekämpfen. Ich möchte auch diese Möglichkeit nutzen, um meine tiefempfundene Anteilnahme für Österreich und für Ihre Leser in Österreich auszudrücken. Wir stehen in dieser Sache voll hinter Österreich und für den Kampf gegen den Terrorismus. Als ich von dem Anschlag gehört habe, habe ich sofort den Chef unserer Sicherheitsbehörden angerufen, und er hat mir gesagt, dass sie bereits mit den österreichischen Behörden in Kontakt sind. Ich war auch mit österreichischen Ministern in dieser Frage in Kontakt. Alle Kanäle sind offen, und es gibt vollkommene Kooperation auch auf der Expertenebene. Aber insgesamt sollte sich Europa mehr auf dieses Thema konzentrieren, etwa auf Grenzübertritte bestimmter Leute und die Informationsweitergabe über sie. Denn das ist eine Bedrohung, der kein Land allein begegnen kann. (Adelheid Wölfl, 20.11.2020)
Source: Der Standard