11/26/2020 06:51
Ein bizarrer Streit über die mazedonische Sprache blockiert die Zukunftsvisionen der EU auf dem Balkan. Bulgarien behauptet, dass es Nordmazedonien gar nicht gebe. Vizepremier Nikola Dimitrov und Staatsminister Michael Roth suchen nach kreativen Lösungen.
Eigentlich sollte die EU unter der deutschen Ratspräsidentschaft noch in diesem Jahr die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien beschließen. Doch nun blockiert Bulgarien das Verfahren. Der Grund: Die Mazedonier gebe es eigentlich gar nicht. Sie sprächen Bulgarisch – behaupten die Bulgaren und verlangen von den Mazedoniern, ihre Sicht auf die Geschichte anzuerkennen. Im Interview sprechen Nikola Dimitrov, der nordmazedonische Vizepremier für europäische Angelegenheiten, und Deutschlands Europastaatsminister Michael Roth über Auswege.
WELT: Bulgarien blockiert die Beitrittsgespräche wegen des Sprachenstreits. Hat Sie die Position Ihrer Nachbarn überrascht? Zuvor hatte Bulgarien Sie ja unterstützt.
Nikola Dimitrov: Das hat alles im Oktober 2019 begonnen. Da gab es eine politische Erklärung im bulgarischen Parlament. Dabei hat Sofia zuvor viel in unsere europäische Zukunft investiert: Mit dem EU-Westbalkan-Gipfel in Sofia im Mai 2018 und dann im Juni, als die bulgarische Außenministerin Sachariewa für grünes Licht bei unseren Beitrittsgesprächen gekämpft hat. Aber mit der Erklärung im Parlament hat die bulgarische Regierung die bilateralen Fragen auf den Tisch der EU gebracht. Dabei haben wir ein Freundschaftsabkommen, Mechanismen, um diese Themen zu besprechen, Historiker von beiden Ländern arbeiten daran. Ich glaube, es ist nicht zielführend, wenn Politiker über historische Fragen streiten. Wir sind eine Region mit einer reichen Geschichte, aber uns ist es bislang nicht gelungen, der jüngeren Generation ausreichend Zukunftsperspektiven zu bieten. Daher war die Idee: Lasst die Historiker über Geschichte streiten – und wir kümmern uns um die drängendsten Fragen von heute und morgen. Wir waren also nicht wirklich überrascht, aber wir sind enttäuscht. Die Europäische Union ist auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon eine Union, die kulturelle und sprachliche Vielfalt respektiert. Und es ist schwierig, den Bürgern Nordmazedoniens zu erklären, wie es kommt, dass ihre Sprache, die mazedonische Sprache, ein Hindernis sein soll, wenn man einer Gemeinschaft beitreten will, die sprachliche Vielfalt ausdrücklich als Reichtum würdigt. Und es ist auch schwierig zu vermitteln, wieso die Sprache ein Hindernis sein soll auf dem Weg zu nachbarschaftlichen Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt basieren sollen.
WELT: Welchen Ausweg könnte es geben?
Michael Roth: Als überzeugter Europäer bleibe ich immer optimistisch. Wir haben ein Versprechen abgegeben, während unserer Ratspräsidentschaft das Möglichste zu geben, um die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien zu beginnen. Und diesem Versprechen fühle ich mich verpflichtet. Die Verhandlungen sind weit vorangeschritten, aber es gibt noch einiges zu tun. In der jüngsten EU-Ministerratssitzung haben nahezu alle Mitgliedstaaten noch einmal deutlich gemacht, dass man bilaterale Themen zwischen beiden Ländern auch dort belassen möge. Jetzt gilt es, sich auf die zentralen Fragen zu konzentrieren, die für die Aufnahme der konkreten Beitrittsverhandlungen wichtig sind. Das ist machbar und wichtig, weil wir für den westlichen Balkan dringend ein positives Signal brauchen – es geht um die Glaubwürdigkeit der EU. Man muss einfach auch anerkennen, dass Nordmazedonien und Albanien in den letzten Jahren Herausragendes geleistet haben. Nordmazedonien hat mit dem Freundschaftsvertrag mit Bulgarien, aber auch durch die Lösung des nahezu 30 Jahre währenden Namensstreites mit Griechenland Geschichte geschrieben. Das muss jetzt auch belohnt werden.
WELT: Herr Dimitrov, Sie haben das Prespa-Abkommen mit Griechenland selbst mit ausgehandelt. Daher wissen Sie um die Komplexität solcher Fragen. Wo sehen Sie einen Weg, den Konflikt mit Bulgarien zu lösen?
Dimitrov: Einer der Hauptgründe, weshalb wir die Frage mit unseren griechischen Freunden lösen konnten, war, dass nicht nur das Prespa-Abkommen keinen Einfluss auf die mazedonische Sprache und Identität hatte, sondern es hat unser Recht auf Selbstbestimmung bestätigt. Beziehungen zwischen Ländern funktionieren auf der Grundlage internationalen Rechts. Staaten erkennen nicht Sprachen oder Identitäten an, sie erkennen Staaten und Regierungen an. Wir leben mittlerweile im Jahr 2020 in Europa. Wer man ist, ist ausschließlich eine Frage für einen selbst. Ich gestatte meinem eigenen Land ja schon nicht, mir zu sagen, wer ich bin. Ganz zu schweigen von einem anderen Land. Die Sprachen europäischer Länder sind deren Angelegenheit, das geht nur die Betroffenen an. Das könnte der Rahmen sein, der uns helfen könnte, dieses Thema zu umgehen. Mazedonisch war neben Slowenisch und Serbo-Kroatisch eine der drei offiziellen Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens. Inzwischen haben wir durch die politische Entwicklung in der Region auch noch Serbisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Bosnisch. Was Leute ihre Sprache nennen, ist deren Recht. Es ist keine sehr nützliche politische Übung, daraus einen politischen Streit zwischen zwei Ländern zu machen.
WELT: Wie würden Sie denn die mazedonische Identität definieren?
Dimitrov: Für das deutsche Publikum: Wir sind eine kleine, aber großartige Nation mitten auf dem Balkan. Wir haben keinen Zugang zum Meer, aber sehr grüne Berge und tolle Seen. Der Prozess der Originalität der mazedonischen Nation beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und kulminiert mit der Staatlichkeit 1944, und diese kann ohne die Berücksichtigung der Einflüsse der anderen nationalen Ideen auf dem Balkan nicht verstanden werden. Übrigens, wie es der Fall mit allen nationalen Ideen in Europa und der Welt ist. Wir waren eine der sechs Gründungsrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens, wir haben unsere Unabhängigkeit 1991 erlangt und sind heute eine multiethnische Demokratie. Die Mehrheit sind Mazedonier, die orthodoxe Christen sind. Es gibt Albaner, Serben, Roma, Türken und diverse andere Gruppen. Was wir in Europa sehen, ist die Hoffnung auf Wohlstand, aber auch eine Wertegemeinschaft. Wir brauchen den Beitrittsprozess, um Europa nach Hause zu holen. Wenn Sie in Nordmazedonien von Europa sprechen, dann verstehen die Leute darunter: unabhängige Richter, Rechtsstaatlichkeit, freie Medien, starke Institutionen, saubere Luft. Sowohl im metaphorischen wie im wörtlichen Sinne. Skopje ist eine der am stärksten verschmutzten Städte in Europa. Deshalb wollen wir die Beitrittsgespräche beginnen. Wir sind seit 15 Jahren Kandidat, und wir waren die Ersten, die das Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen unterzeichnet haben, aber wir haben eine Generation verloren wegen des Namensstreites mit Griechenland. Dann wurde in Brüssel auf Ersuchen von Paris eine neue Methodologie für die Beitrittsverhandlungen erarbeitet. Jetzt kommt das letzte Hindernis von unseren östlichen Nachbarn.
WELT: Aber wie kann man es konkret lösen?
Dimitrov: Ich glaube, die Lösung besteht darin, sich auf die lösbaren Probleme zu konzentrieren, aber nicht darin, unsere Identität zu einer Voraussetzung für eine europäische Zukunft zu machen. Es ist nicht richtig, wenn Mazedonier sich im Jahr 2020 entscheiden müssen, ob sie Mazedonier bleiben oder Europäer werden wollen. Das gehört zusammen, und die Herausforderung für eine nationale Identität in Europa ist auch eine Herausforderung für Europa, denn Europa ist eine Wertegemeinschaft, die ihre Diversität wertschätzt.
Die Ziele, eine Freundschaft mit Bulgarien aufzubauen, Aufnahmegespräche zu führen sowie unser Recht auf Selbstbestimmung und eigene Identität zu schützen, ergänzen sich gegenseitig. Wir werden also weiter verhandeln, einige Wochen bleiben ja noch. Und hoffentlich schaffen wir es, mithilfe der deutschen Ratspräsidentschaft gemeinsam mit unseren Nachbarn in Bulgarien zum Erfolg zu gelangen.
WELT: Welche Hebel hat denn die deutsche Ratspräsidentschaft, um einen Kompromiss zu erwirken?
Roth: Wir sind ja derzeit täglich in engem Austausch mit beiden Seiten. Am Ende überzeugt hoffentlich ein Argument: Der westliche Balkan ist nicht unser Hinterhof, sondern der Innenhof Europas. Frieden, regionale Versöhnung und Demokratie dort sind für ganz Europa von zentraler strategischer Bedeutung. Insbesondere für die unmittelbare Nachbarschaft. Auch die Sicherheit und Stabilität Bulgariens wären gefährdet, wenn wir nicht zu mehr Sicherheit und Stabilität in der Nachbarschaft kommen. Im Grundsatz wird dieses Argument auch von allen anerkannt. Unser Verhandlungsziel ist es, die Punkte zu klären, die man für die Beitrittsverhandlungen dringend braucht und die in der Verantwortung der EU liegen. Und dann gibt es ein paar bilaterale Fragen, die sich aus bulgarischer Sicht aus der unzureichenden Umsetzung des Freundschaftsvertrages ergeben. Hier haben wir beide Seiten dazu ermutigt, eine bilaterale Agenda für eine gemeinsame Zukunft zu entwickeln und eine Verabredung zu finden, die die bilateralen Fragen verlässlich und strukturiert angeht und löst. Solche Hürden der Vergangenheit sind sehr emotionale Konflikte. Die brauchen Zeit, die kann man nicht innerhalb weniger Wochen lösen. Bulgarien und Nordmazedonien haben eine Historikerkommission eingerichtet. So etwas geht nicht von heute auf morgen. Die Schatten der Vergangenheit dürfen aber den Start von Beitrittsverhandlungen und die Aufnahme von Regierungskonferenzen noch im Dezember nicht behindern.
WELT: Herr Dimitrov, was wären die Folgen für Ihr Land, wenn sich die Aufnahmegespräche weiter verzögern?
Dimitrov: Die Folge wäre eine Desillusionierung. Die Menschen verlieren die Hoffnung, dass es wirklich möglich ist, näher an Europa zu rücken. Die ganze Region befindet sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Junge Leute entscheiden sich, zu gehen, nach Deutschland, Italien oder in einen anderen Mitgliedstaat zu ziehen, denn sie wollen eine europäische Perspektive. Wir brauchen diese Menschen aber, um genau diese Perspektive bei uns zu Hause zu schaffen. Wann immer es ein Hindernis für den Weg nach Europa gibt, dann spielt das Skeptikern und Nationalisten in die Hände. Je kleiner man die Hoffnung macht, dass die europäische Vision für dieses Land Wirklichkeit werden könnte, desto mehr schadet das den proeuropäischen Reformern, und desto mehr profitieren negative Kräfte. Unser ehemaliger Regierungschef verlor seinen Kompass in einer außergewöhnlichen Lage, nachdem es uns beim Bukarest-Gipfel 2008 nicht gelungen war, in die Nato aufgenommen zu werden. Das bewirkte eine Verzögerung, die er nutzte, um seine Macht auszubauen. Ich glaube, wenn wir nicht erfolgreich sind – und ich hoffe, wir werden es mit der Hilfe aus Berlin und von anderen Mitgliedstaaten sein –, aber wenn es nicht gelingt, werden wir uns anstrengen müssen, die Energie auf die richtigen Dinge zu lenken, den Reformplan voranzutreiben.
Denn der EU-Beitritt ist ein Beschleuniger für Reformen. Wenn wir keine formalen Beitrittsgespräche führen können, werden wir wahrscheinlich interessierte Mitgliedstaaten einladen, uns dabei zu helfen, in den Schlüsselbereichen weitere Reformen durchzuführen. Damit wir in guter Form sind, wenn die Umstände sich verändern. Der Effekt einer Verzögerung auf unsere Innenpolitik besteht also darin, dass er die Herausforderung, den eingeschlagenen Kurs einzuhalten, noch etwas größer macht. Wir müssen den Leuten dann erklären, dass wir nicht aufgeben dürfen. Wir haben die Vision eines europäischen Nordmazedoniens, und daran halten wir fest. Wenn das mithilfe der Beitrittsgespräche geht, wunderbar. Doch selbst ohne diese müssen wir weiter arbeiten, um europäische Standards zu Hause zu verwirklichen. Ich glaube, mithilfe unserer Freunde in den europäischen Hauptstädten kann das gelingen, und dies würde helfen, eine Perspektive für unser Volk zu sichern. Aber die Opposition spricht bereits jetzt von Misstrauensvotum, fordert den Ministerpräsidenten, den Außenminister und mich zum Rücktritt auf. Das ist das Ergebnis der bislang erfolglosen Entwicklungen.